Psychologie
 
Zen in der Kunst des Zuhörens  
 
Wer gut reden kann, heimst Lob ein. Wer kennt nicht den berühmten griechischen Redner Demosthenes?! Seinen Sprachfehler merzte er aus, indem er Kieselsteine in den Mund nahm und bei tosender Brandung das Reden übte. Mehr als geschliffene Worte vermag oft die Kunst des Zuhörens zu bewirken; nicht umsonst ist Schweigen Gold.
     
    Der Titel «Zen in der Kunst des Zuhörens» weckt Erwartungen und Erinnerungen – nicht nur an das Kultbuch «Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten», sondern auch an eine Vielzahl anderer, die Zen oder Tao im Titel führen, aber wenig mit fernöstlicher Praxis zu tun haben. Rebecca Z. Shafir weiss, wovon sie schreibt: Sie praktiziert Zen-Meditation seit vielen Jahren und arbeitet seit zwanzig Jahren als Sprachtherapeutin mit Personen, die nach einem Unfall oder einer Krankheit unter Kommunikationsstörungen litten. Die Autorin entdeckte dabei erneut die verloren gegangene Kunst des Zuhörens.  
       
    Das Ohr ist zehn Augen wert  
    Die Auslegung eines chinesischen Schriftzeichens kann verschiedene Ebenen mit einbeziehen und daher ganz unterschiedlich ausfallen. Masatoshi Yamawaki erläutert: Im Zeichen für «aufmerksam zuhören» symbolisieren die linken Teil-Piktogramme «Ohr» (oben) und «gewickelter Faden» (unten; ursprüngliche Bedeutung: von Yin zu Yang wechseln); rechts finden wir «zehn» und «Auge» (mit zehn Augen prüfen); das «Herz» macht den Abschluss. Das ganze Zeichen könnte gedeutet werden als «Mit offenem (geradem) Herzen zuhören.» Chinesisches Zeichen für Zuhören  
    Der Zen-Meister Dae Gak legt das Zeichen wie folgt aus: «Wenn wir still sind, hören wir mit dem Herzen. Das Ohr ist zehn Augen wert.»
Sind unsere Ohren wirklich zehn Augen wert? Kaum jemand von uns ist darin geschult worden, still zu werden, alle Sinne zu öffnen und achtsam zuzuhören – frei von Selbstinteresse und Selbstbezogenheit.
Stille ist für uns keine Selbstverständlichkeit. Wir sind ständig bemüht, aus dem Datensmog wichtige Informationen herauszufiltern: Wir deuten und gewichten unentwegt die Fülle an Informationen, die auf uns einstürmt. Hand aufs Herz: Wer ist nicht schon, während sein Gegenüber spricht, am Überlegen, was er/sie als Nächstes sagen möchte?! Zeit zum Denken haben wir reichlich, da beim Sprechen nur 200 bis 300 Worte in der Minute übermittelt werden, während unser Gehirn spielend ein Vielfaches dieses Inputs verarbeiten könnte.
 
       
    Bruchstücke und Barrieren  
    Beim selektiven Hören filtern wir aus den Botschaften heraus, was uns wertvoll erscheint. Durch diese «Zensur» erreichen uns nur Informationsbruchstücke. Oft bleibt der Kern der Botschaft auf der Strecke und Missverständnisse sind vorprogrammiert. Wenn jemand spricht, bewerten wir zudem die Information nach unseren Wertvorstellungen ... und selbst vor der Informationsquelle macht unsere Kritik nicht Halt: «Allein das äussere Erscheinungsbild eines Menschen löst das lautlose Herunterbeten einer ganzen Litanei möglicher Bewertungen aus.»
Was können wir tun? Meditation ist der beste Weg, uns von inneren Barrieren und auch vom Lärm in uns zu befreien. Wer führt nicht die meiste Zeit über einen inneren Dialog, um das gute oder schlechte Bild über sich und die Welt zu zementieren?!
 
       
    Schlechte und gute Zuhörer  
    Schlechte Zuhörer geben laufend negative Inputs: Augen verdrehen, Ignorieren von Bemerkungen; sie unterbrechen (verbal oder nonverbal) mit Vorliebe den Redefluss, wechseln abrupt das Thema, geben selber eigene Erfahrungen zum Besten oder – noch schlimmer – erteilen ungebetene Ratschläge.
Gute Zuhörer hingegen sind sich ihrer inneren Barrieren und Programmierungen bewusst und lassen sich nicht von ihnen ablenken; sie bewerten das Gehörte nicht, stellen ihre eigenen Ziele hintan und sind daher während des Gesprächs gleichmütig und ausgeglichen und werden nicht von ihren Gefühlen in einen Stresszustand versetzt.
«Ein guter Zuhörer ist leicht auszumachen – wir unterhalten uns gerne mit ihm und fühlen uns in seiner Gesellschaft wohl. Er versteht es nicht nur, das gesprochene Wort und die dahinter liegende Bedeutung richtig zu verarbeiten, sondern gibt dem Sprecher auch das Gefühl der Wertschätzung, weil er ihn ermuntert, seine Ideen und Gefühle zu schildern. Er berührt das Leben derjenigen, denen er zuhört.»
Gute Zuhörer nutzen die grossen Zeitreserven während des Hörens, um das Gehörte innerlich zu wiederholen, mit Bildern anzureichern und zusammenzufassen, und geben auch hin und wieder eine positive Rückmeldung. Bei allen diesen Tätigkeiten bleiben sie unentwegt im Fluss des Gehörten und schweifen nicht ab.
 
       
      Aufmerksames Zuhören  
     
Zwei Menschen im Gespräch; einer hört aufmerksam zu
 
       
    Der Kinomodus  
    Wie können wir gute Zuhörer werden? Indem wir uns in unser Gegenüber versetzen und versuchen, die Welt aus seiner Sicht wahrzunehmen. Dies gelingt nur, wenn wir uns zurücknehmen und ganz für die Botschaft offen sind. Rebecca Shafir nennt diesen Zustand den «Kinomodus»: Wenn wir im Kino entspannt und aufmerksam zugleich die Handlung eines Films mitverfolgen, fällt es uns leicht, uns für diese Zeit mit einer Figur zu identifizieren; wie leiden und freuen uns mit ihr und vergessen unsere Umwelt und unsere Sorgen.
Wenn ein Sprecher merkt, dass wir uns in seinen Film einklinken, fühlt er sich ernst genommen und anerkannt. Drei Dinge sind notwendig, um uns als aufmerksamen Zuhörer in den Film eines anderen einblenden zu können:
 
 
1. der Wunsch, die ganze Botschaft aufzunehmen;
2. die Fähigkeit, störende Barrieren zu beseitigen;
3.  die Bereitschaft, die eigenen Interessen weiter unten auf der Prioritätenliste anzusiedeln.
 
    Wie wichtig es ist, sich in den Film des Sprechers versetzen zu können, meinte auch Mahatma Gandhi, als er sagte: «Drei Viertel der Miseren und Missverständnisse in der Welt werden verschwinden, wenn wir uns in die Lage unserer Kontrahenten versetzen und ihren Standpunkt verstehen.»
Und der weltbekannte Psychologe Abraham Maslow formulierte: «Die wirksamste Art, die wahre Beschaffenheit der Welt wahrzunehmen, besteht darin, rezeptiv (aufnehmend) und nicht zwanghaft aktiv zu sein.»
 
       
    Offen und achtsam werden  
    «Unsere Gesprächspartner als gleichwertig zu betrachten setzt innere Offenheit und Toleranz voraus. Nur wenn wir bereit sind, jedes Gespräch als Chance wahrzunehmen und neue Erfahrungen zu machen, können wir entspannt und konzentriert zugleich unserem Gegenüber lauschen. Achtsames Zuhören wird als harmonisches Zusammenwirken von drei Faktoren verstanden:  
   
1.  Entspannung
2. Konzentration
3. Lernbedürfnis oder der Wunsch, eine Situation aus der Perspektive eines anderen Menschen zu sehen.
 
    Manchmal müssen wir uns zufrieden geben, dass wir die Kommunikationshürden nicht auf einen Schlag, sondern Stück für Stück abtragen. Schliesslich haben wir ein Leben lang gebraucht, um sie zu schaffen.»  
       
    Die Crux mit der Zeit  
    Zeit ist Mangelware. Wir haben es uns angewöhnt, wenn immer möglich mehrere Tätigkeiten zugleich auszuführen. Das spart – vermeintlich – Zeit. Wie oft ist es uns dann passiert, unaufmerksam einen dummen Fehler begangen zu haben, der uns ein Mehrfaches der «eingesparten» Zeit kostete. Wer seine Konzentration hingegen ganz auf die Tätigkeit ausrichtet, die er gerade tut, geht ganz im Tun auf. Wer seine Energie auf solch positive Weise auf sein Handeln zu bündeln vermag, erfährt wie von selbst innere Harmonie – sei es beim Malen, Musizieren, Taiji-Spielen ... oder bei der Arbeit. Oft wird auch das Aufgehen in einer Aufgabe/im Augenblick erfahren als Zeitlosigkeit, als ein Fliessen im Jetzt.  
       
    Zen des Zuhörens Hören: Körpersprache:
Worte =
55 : 38 : 7
 
       
    Wenn jemand spricht, nehmen wir die Botschaft nur zu 7 Prozent durch die Worte selbst wahr; 55 Prozent übermitteln uns Gestik und Mimik und 38 Prozent nehmen wir durch Tonfall, Sprechtempo, Rhythmus und Betonung auf. Die linke Hirnhälfte verarbeitet dabei die logische Wortbedeutung, während die rechte den Tonfall und die nonverbale Körpersprache einbezieht. Wir könnten die stiefmütterlich behandelte rechte Hirnhälfte trainieren, indem wir beim Zuhören versuchen, uns die Worte bildlich vorzustellen und auch die auditiven (hörbaren) Signale in unsere Wahrnehmung einzubeziehen.  
       
    Schweigen ist Gold  
    Bei uns gilt das Zuhören als passiver Vorgang. Wer redet, bestimmt aktiv den Lauf eines Gesprächs. Solcherlei Aktivität, die in unserer Kultur Führungsstärke signalisiert, wird nicht nur in Managerkreisen hoch geschätzt. Die Unsitte, jemanden beim Reden zu unterbrechen, ist aus diesem Grund weit verbreitet. «Hinter dem Wunsch dazwischenzureden steht der Kampf um Macht und Kontrolle im Gespräch.  
       
   
Aufmerksam zuhören:
Wenn wir still sind,
hören wir mit dem Herzen.
Das Ohr ist zehn Augen wert.
Dae Gak
 
    Schweigen gehört zu den wichtigsten, doch leider am wenigsten geübten Verhaltensweisen; in den östlichen Kulturen gilt es immer noch als eine der höchsten und erstrebenswertesten Tugenden. Amerikaner unterhalten sich im Durchschnitt doppelt so lange wie Japaner. Beim Menschen im Westen kommt das Reden an erster, das Zuhören an zweiter und das aufmerksame Beobachten an dritter Stelle. In den fernöstlichen Kulturen ist die Reihenfolge umgekehrt: Beobachten, Zuhören, Reden.

Ein wichtiges Merkmal der zwischenmenschlichen Beziehung in Japan ist das Konzept des enryo-sasshi: Japaner vereinfachen ihre Botschaft und eine langatmige Erläuterung ihrer Ideen; sie gehen davon aus, dass der Zuhörer die volle Bedeutung auch so zu erfassen vermag.»
 
       
    Augen und Ohren aufsperren  
    Beim Fernsehen nehmen wir die Botschaft mit Augen und Ohren auf. Studien haben gezeigt, dass das Auge dabei dominiert. Wenn wir objektiv sein wollen, müssen wir den Ohren mehr Bedeutung zumessen – auch weil unsere Hörschwächen von der Werbung gezielt ausgenutzt werden.
Hätten Sie es gewusst? Unsere Aufmerksamkeitsspanne beläuft sich auf ganze 22 Sekunden! Genau so lange ist heute ein Fernsehspot. Und auch die Erkenntnis, dass man sich an Gelerntes besser erinnert, wenn es baldmöglichst repetiert wird, haben sich die Fernsehwerber zu eigen gemacht: Spots folgen immer öfter optimal kurze Wiederholungen.
 
       
    Zuhören ist und macht gesund  
    Studien haben gezeigt: Beim Zuhören sinken Herzfrequenz, Stauerstoffverbrauch und Blutdruck. Wenn wir jemandem aufmerksam zuhören, ermöglichen wir auch unseren Gesprächspartnern, Stress abzubauen und eigene Konflikte zu lösen. «Ein Gespräch verringert nachweislich die Anfälligkeit für verschiedene Virus-Erkrankungen, stärkt das Immunsystem und mindert die Schmerzempfindlichkeit. Virtuelle Kommunikation wie E-Mail und die Chat-Ecken im Internet tragen nur dazu bei, die soziale Isolation auf die Spitze zu treiben.» Zuhören stärkt auch die Selbstheilungskräfte.

Die gesundheitsfördernden Eigenschaften, die Rotwein zugeschrieben werden, hängen vermutlich stark mit den positiven Auswirkungen des Beisammenseins mit anderen Menschen in gelöster Atmosphäre zusammen.

Der Blutdruck fiel bei einem Versuch auf Traumwerte, wenn die Patienten jemandem lauschten, sich dabei selber vergassen und eine neue Perspektive einnahmen. Ebenso sinkt der Blutdruck, wenn Sie Ihre Katze oder Ihren Hund streicheln – Ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Tier richten und sich selber eine Zeit lang vergessen. Es gibt verschiedene Übungen, die den gleichen Effekt hervorrufen: Qigong, Taiji, ... und Meditation. «Meditation ist ein Mittel, um Körper, Seele und Geist zu unterschiedlichen Zwecken miteinander zu verbinden; das Zuhören profitiert beträchtlich von diesem Gleichklang.»
 
       
 
Tipps, wie Sie bei Ihrem Vortrag aufmerksame Zuhörer gewinnen:
1
   Machen Sie sich mit Ihrem Publikum vertraut.
2
  Sorgen Sie für eine störungsarme Umgebung ohne Lärm und visuelle Ablenkungen.
3
  Hören Sie zuerst aufmerksam zu.
4
  Lockern Sie die Präsentation mit Humor auf.
5
  Benutzen Sie audiovisuelle Hilfsmittel, um wichtige Punkte hervorzuheben.
6
  Zeichnen Sie Diagramme zum besseren Verständnis schwieriger Konzepte.
7
  Heben Sie die wichtigsten Sätze durch Veränderung von Stimmlage und Sprechgeschwindigkeit hervor.
8
  Ermutigen Sie Ihre Zuhörer, ihr visuelles Gedächtnis zu benutzen.
9
  Bitten Sie Ihre Zuhörer um Feedback.
10
  Wecken Sie die Aufmerksamkeit Ihrer Zuhörer, indem Sie zum Dialog einladen.
11
  Ermutigen Sie die Gruppe durch Brainstorming zur aktiven Teilnahme.
12
  Stellen Sie Blickkontakt zu einzelnen Zuhörern her.
13
  Unterstreichen Sie den Nutzen Ihres Produkts oder Ihrer Dienstleistung statt der technischen
Leistungsmerkmale.
14
  Kommen Sie zur Sache.
15
  Beseitigen Sie ablenkende Sprachbarrieren.
16
  Fassen Sie die wichtigsten Punkte am Ende der Präsentation zusammen.
 
 

Text: Jürg Lendenmann

Rebecca Z. Shafir: Zen in der Kunst des Zuhörens.
Broschiert, 298 Seiten, etwa Fr. 37.–.

Für Informationen über das chinesische Schriftzeichen «aufmerksam zuhören» sei Bernard Hung und Masatoshi Yamawaki herzlich gedankt.

Erschienen im VGS-Gesundheitsmagazin
Juli/August 2001 >> pdf 280 kB